Sie sind hier: Startseite Betroffene Gewalt am Kind Handlungsleitfaden

Handlungsleitfaden

 

Unterschiedlichste Gefühle können beim Kontakt mit einem Kind, dem Gewalt angetan wurde, ausgelöst werden. Hass, Bestürzung oder Ratlosigkeit – es ist wichtig, sich der eigenen Gefühle bewusst zu sein, um handlungsfähig zu bleiben.
Der Schutz des Kindes hat höchste Priorität! Es darf aber nichts überstürzt werden. Die große Herausforderung liegt darin, Signale wahrzunehmen, korrekt zu deuten und gewissenhaft und sachlich zu dokumentieren. Es liegt nicht in der Verantwortung von medizinischem, Pflege- oder Gesundheitspersonal, einen Täter zu identifizieren. Die Verantwortung dieser Fachpersonen liegt jedoch darin, das Kind vor weiteren Gewalteinwirkungen zu schützen.
Dazu ist es sinnvoll, Kooperationen mit speziell geschulten, erfahrenen Fachkräften einzugehen. Der Prozess, ein Kind aus einem gewalttätigen familiären System zu befreien, erfordert sehr viel Feingefühl und Achtsamkeit.

Der Verdacht einer Gewalttat drängt sich auf – was nun?

  • genau HINSCHAUEN
  • sensibel BEOBACHTEN
  • sorgfältig DOKUMENTIEREN
  • Beweise SICHERSTELLEN
  • NICHTS ÜBERSTÜRZEN


Allgemeine Verhaltenstipps:

  • Informationen sammeln
  • Fragen stellen (Anamnese, Unfallhergang …)
  • keine Interpretationen
  • aufmerksam zuhören
  • Widersprüche/Differenzen erfassen
  • Unklarheiten immer wieder hinterfragen
  • empathische Haltung einnehmen
  • Verhalten beobachten (Kind, Bezugspersonen)
  • Untypisches wahrnehmen
  • keine Schuldzuweisungen
  • Verdacht nicht unüberlegt ansprechen


Medizinische Untersuchung

Besteht der Verdacht einer Gewalteinwirkung, so wird das Kind systematisch untersucht:

  • Gesamte Hautoberfläche auf Verletzungen
  • Schleimhäute von Augen und Mund auf Einblutungen (1)
  • Organverletzungen, Frakturen
  • neurologische Auffälligkeiten
  • Verletzungen auf dem Körperschema einzeichnen
  • weitere diagnostische Maßnahmen je nach klinischem Befund


Erhärtet sich der Verdacht des sexuellen Missbrauchs, so ist zusätzlich ein gynäkologisches Konsilium erforderlich. Bei akuten Ereignissen (z. B. vom Kind berichtet; Auffälligkeiten des Kindes bei bestehendem Verdacht) soll die Untersuchung sofort durchgeführt werden. In den ersten 72 Stunden nach der Tat ist die Chance, verwertbare Spuren sichern zu können, am größten. (1)
Kind nicht umziehen, nicht waschen
gynäkologische Untersuchung
Sicherung eventuell vorhandener Spuren (siehe auch: Spurensicherung)

Hat das Ereignis vor mehr als drei, aber weniger als vierzehn Tagen stattgefunden, so sollte die gynäkologische Untersuchung so bald wie möglich durchgeführt werden. Es besteht immer noch die Möglichkeit, Hämatome und genitale Verletzungen zu diagnostizieren. Sind seit dem Missbrauch mehr als zwei Wochen vergangen, so kann die Untersuchung längerfristig geplant werden. (1)


Dokumentation

Die ausführliche und gewissenhafte Dokumentation (in Verbindung mit der weiter unten beschriebenen Spurensicherung) durch den Erstuntersucher ist ausschlaggebend für den Erfolg der Gerichtsmedizin bei der Rekonstruktion des Tathergangs und der Identifikation des Täters.
Die Verwendung eines standardisierten Dokumentationsbogens bietet Unterstützung bei der Beschreibung von Verhaltensweisen und körperlichen Auffälligkeiten. Zudem ist es ratsam, die gesamte Gesprächssituation in Form eines Gedächtnisprotokolls zu dokumentieren. Von Relevanz ist ebenso, wem die Verletzung aufgefallen ist und ob derartige oder ähnliche Verletzungen schon früher vorhanden waren.

Persönliche Daten (Kind, Bezugsperson):

  • Familiensituation, Geschwister
  • Anamnese (hat das Kind öfter solche Verletzungen; wem ist die Verletzung aufgefallen)
  • Unfallhergang (Angabe Kind/Bezugsperson)
  • körperlicher Status/Verletzungen (Lokalisation, Größe, Farbe, Form, Beschaffenheit, Beziehung zueinander – Körperschema)
  • Entwicklungsstatus/Auffälligkeiten
  • Verhalten des Kindes/Auffälligkeiten
  • Verhalten der Bezugspersonen/Auffälligkeiten
  • Art der Spuren/Spurensicherung
  • Hinweis auf Fotodokumentation (Speichermedium)
  • Gedächtnisprotokoll zum Gesprächsverlauf
  • Auffälligkeiten
  • Widersprüchlichkeiten
  • emotionale Ausbrüche
  • u. dgl.


Fotodokumentation:

  • sämtliche Verletzungen, Kleidung, Fremdkörper u. ä.
  • Kind eindeutig erkennbar
  • Region eindeutig erkennbar
  • Verletzung eindeutig dem Kind zuordenbar
  • Maßband bzw. Winkelmaß zur Größendarstellung
  • Kind mit Begleitperson (Identifizierung)
  • digitale Archivierung sicherstellen
  • Sicherstellung von Beweismaterial

Die korrekte und gewissenhafte Sicherung von eventuell vorhandenen Spuren ermöglicht der Gerichtsmedizin, den Tathergang zu rekonstruieren und den Täter zu identifizieren. Eine Spurensicherung ist vor allem im Falle eines sexuellen Missbrauchs erforderlich.

Verletzung Kind f2

 

Maßband zur Größendarstellung

 

 

Verletzung Kind f

 

Winkelmaß zur Größendarstellung

 

Bildquelle: Yen K.: Kindesmisshandlung Kindesmissbrauch. Präsentation anlässlich der 11. Jahrestagung für Kinderkrankenschwestern/-pfleger in Graz, 2008.

Möglichkeiten der Spurensicherung

Abstriche an Körperregionen
Abstriche können nahezu von jeder Körperregion entnommen werden, wo „fremde“ Spuren/Sekrete vermutet werden:

  • Genitalbereich, Analbereich, Nasen-Rachen-Raum, Ohren, Haut
  • Verletzungsspuren, wie Knutschflecken, Bissmarken, Würgemale
  • Blut-, Speichel- und Spermaspuren
  • Abriebe von Fingernagelunterseiten bzw. -rändern
  • Kopf-/Körperhaare (Schamhaare)
  • Kleidung (Sicherung von Kleidungsstücken ist Aufgabe der Exekutive)
  • Windeln


Materialien und Vorgangsweise
Keine Plastiksäcke, Plastikröhrchen oder Glasbehälter!
Generell ist zu beachten, dass Spurenträger aller Art NICHT in Plastiksäcke oder Glasbehälter gegeben werden. Feuchtigkeit fördert das Bakterienwachstum und zerstört die DNA. Wird ein steriler Watteträger dennoch in ein Plastik- oder Glasröhrchen gegeben, so muss dieses sofort eingefroren werden.

Spezielle Kartonboxen, Abstrichröhrchen und Spurensicherungssets
Empfehlenswert für die korrekte, sichere und mittels Checklisten angeleitete Gewinnung von medizinischen Beweismitteln und biologischen Spuren sind die eigens im Handel erhältlichen Sets (z. B. bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch), Kartonboxen und Abstrichröhrchen (z. B. http://www.swissforensix.com/). Diese erfordern kein zusätzliches Trocknen, Kühlen oder Einfrieren. Es ist gewährleistet, dass die Probe in den vorgesehenen Behältern sehr schnell trocknet und somit der Nachweis der DNA über einen längeren Zeitraum hin möglich bleibt.
Kleidungsstücke oder Windeln werden in trockenem Zustand einzeln in Papiersäcke bzw. Kartonboxen gegeben.

Sterile Handschuhe
Um eine weitere Kontamination zu vermeiden, werden bei der Gewinnung von Untersuchungsmaterial sterile Handschuhe verwendet.

Kochsalzlösung/destilliertes Wasser
Um Spuren aus eingetrockneten Sekreten zu gewinnen, wird der jeweilige Watteträger mit steriler Kochsalzlösung oder destilliertem Wasser befeuchtet. Diese Vorgangsweise ist auch möglich, wenn Hautabriebe an Fingernagelunterseiten mittels Watteträger asserviert werden sollen.

Papiersäckchen/Kuverts
Die Sicherstellung von Haaren erfolgt in einem Papiersäckchen oder Papierkuvert mittels anatomischer Pinzette. Befinden sich Hautabriebe an Fingernagelunterseiten, so können die Fingernägel mit steriler Schere geschnitten und in ein Kuvert bzw. Papiersäckchen gegeben werden.

Vernetzung
Kontakt herstellen zu unterstützenden Organisationen und Beratungseinrichtungen
Beratungseinrichtungen können neben Betroffenen auch von medizinischem, Gesundheits- und Pflegepersonal zur Unterstützung und Beratung kontaktiert werden.
Häufig werden Verdachtsfälle zum Ziel der weiteren Abklärung in die Ambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde zugewiesen.
Bei stationärer Aufnahme muss die Kinderschutzgruppe involviert werden – diese ist in allen öffentlichen Krankenhäusern als Experten-/Expertinnengruppe für kindliche Gewaltfälle installiert.

Mitarbeiter/innen der Kinderschutzgruppe …

  • werden bei Verdacht einer Gewalteinwirkung kontaktiert
  • helfen mit, den Verdacht zu entkräften bzw. zu bestätigen (Dokumentation, Spurenergebnisse, med. Befunde, Familienassessment, Verhaltensanalyse …)
  • erstatten Meldung an das zuständige Jugendamt
  • planen das Konfrontationsgespräch mit den Bezugspersonen
  • bieten den Bezugspersonen Hilfestellung an
  • erstellen mit den Bezugspersonen ein Strategiekonzept (Sozialplan)
  • planen unabwendbare/notwendige Maßnahmen zum Schutz des Kindes
  • stehen beratend für Krankenhauspersonal zur Verfügung

 

Literatur:

(1) Vgl. Voigt C.: Hinweise zu Spurensicherung und Dokumentation. Mailnachricht. Klinisch-Forensische Bildgebung. Graz: Ludwig Boltzmann Insitut, 2009.