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Miterlebte Gewalt

Da in vielen Haushalten auch Kinder und/oder Jugendliche leben, erleben diese gleichermaßen Gewaltakte zwischen den Elternteilen, Partnern, Großeltern oder Schwiegereltern, anderen Verwandten oder Bekannten.

 

Den wenigsten Erwachsenen scheint es bewusst zu sein, dass die Kinder und Jugendlichen somit einer miterlebten Gewalt ausgesetzt sind. Demzufolge werden kaum Schutz- und Hilfsmaßnahmen ergriffen.

Begriffserklärung
An diesem Punkt bedarf es einer Begriffserklärung hinsichtlich der möglichen Gewaltformen, denen Kinder und Jugendliche bei häuslicher Gewalt ausgesetzt sein können:

Direkte Gewalt:
Jegliche Form der Gewaltanwendung die direkt am Kind oder an der/dem Jugendlichen ausgeübt wird (siehe auch: Gewalt am Kind), so zum Beispiel physische Gewalt, Vernachlässigung, Anschreien und Abwerten, sexuelle Gewalt usw.

Miterlebte Gewalt:
Dies ist jene Form, bei der Kinder/Jugendliche auf irgendeine Weise Zeuginnen/Zeugen von Gewalthandlungen gegenüber einer ihnen nahestehenden Person werden. Die Zeugenschaft kann in Form des Sehens, Hörens oder Fühlens bestehen. Dies heißt, auch wenn keine direkte Anwesenheit der Kinder gegeben ist, nehmen sie dennoch das „Geschehene“ wahr, da sie evolutionsbiologisch darauf eingerichtet sind, auch kleinste Veränderungen bei ihren Bezugspersonen zu bemerken. So werden die Kinder, auch wenn sie nicht direkt beim Gewaltakt anwesend sind, Zeuginnen/Zeugen von Anspannung, Ängsten, Einschüchterung, Wut, physischen Verletzungsmerkmalen, verändertem Verhaltensrepertoire usw., welche zu den Folgeerscheinungen bei den Betroffenen gehören. Häufig führen fehlerhafte Annahmen wie: „Mein Kind ist eh noch zu klein, um zu verstehen“, „Es passierte nur nachts, als die Kinder geschlafen haben“, „Wir haben immer die Türe geschlossen“ nur dazu, dass dem Kind keine Hilfs- bzw. Schutzangebote gemacht werden. Dabei zeigt uns die Definition von „miterlebter Gewalt“ ganz deutlich, dass dennoch auch indirekt Gewalt am Kind ausgeübt wird und dies den Eltern nicht bewusst ist.

Die Wirkung partnerschaftlicher Gewalt auf Kinder und Jugendliche
Miterlebte Gewalt hat nicht nur Auswirkungen auf das Kind oder die/den Jugendliche/n, wenn es sich beim Täter um den leiblichen Vater handelt, sondern auch, wenn es andere nahe (enge) Bezugspersonen des Kindes sind, so z. B. der Partner der Mutter, Großeltern usw.
In den meisten Fällen erfolgt die miterlebte Gewalt bei Kindern im häuslichen Kontext durch den Vater gegen die Mutter des Kindes oder des/der Jugendlichen. In einigen Fällen führt dies dazu, dass die Kinder/Jugendlichen massive Angst gegenüber dem gewaltausübenden Erwachsenen verspüren und demzufolge versuchen, jeglichen Kontakt zu vermeiden. Leider kommt es nicht bei jedem Kind/bei jeder/jedem Jugendlichen zu diesem Schutzverhalten. Es scheint auch davon abhängig zu sein, wie sich die Umgebung gegenüber dem Gewalttätigen und der „Fluchtreaktion“ des Kindes oder der/des Jugendlichen verhält. Das geschilderte Verhalten lässt sich häufiger bei Kinder und Jugendlichen beobachten, die ein entsprechendes Verhaltensmodell heranziehen können und wenn das Kind in seinem Verweigerungsverhalten bei Kontakten zum und Besuchen beim Vater ernst genommen wird.
Da sich Kinder einerseits als Teil der Mutter, andererseits jedoch auch als Teil des Vaters erleben kann es auch dazu kommen, dass sie sich dennoch mit dem gewalttätigen Vater identifizieren, auch wenn sie seine Verhaltensweisen ablehnen oder durch diese verängstigt sind.
Weitere Wirkmechanismen können wie folgt beschrieben werden (1):

Loyalitätsbündnisse und Loyalitätskonflikte:
Häufig beobachtbar ist auch das Phänomen des Loyalitätsbündnisses: Gewalttätige Väter, die die Herrschaft über die Familie beanspruchen, erzwingen häufig durch Loyalitätsanforderungen die Unterwerfung der Kinder unter ihre Person und missbrauchen sie emotional zur Gewaltausübung gegen die Mutter, indem sie in ihnen Verbündete suchen und sie massiv psychisch unter Druck setzen. Auch Erklärungen wie, dass die Mutter selbst schuld an den ihr zugefügten Misshandlungen sei, da sie zu wenig im Haushalt mache, zu viel Geld ausgebe, ständig provoziere und unzufrieden sei, zu viel Alkohol trinke (siehe auch: Weitere Indikatoren häuslicher  Gewalt) usw., trägt dazu bei. Aufgrund der Traumatisierung der Mutter kann es auch zu einer (emotionalen) Vernachlässigung der Kinder durch sie kommen, was den Einfluss des gewalttätigen Vaters verstärken kann. Manche Väter versuchen, mittels materieller Zuwendungen und Versprechungen die Kinder für sich zu gewinnen. Diese Prozesse nehmen im Rahmen einer Trennung der Eltern noch mehr Raum ein.
Vonseiten der Mutter bekommen die Kinder andere Erklärungen bezüglich des väterlichen Verhaltens, und es kommt zu „Doppelbotschaften“, welche für ein Kind nur schwer einzuordnen bzw. verwirrend sind. Das Kind steht damit aber auch im Loyalitätskonflikt, da es sich zugehörig zu beiden Elternteilen fühlt. Suchen die Mütter auch Verbündete in ihren Kindern, hat dies mit deren Gewalterfahrungen zu tun, mit dem Leben in einer Partnerschaft, ihn welcher sie sich ungeliebt, weniger wertvoll oder/und allein fühlen. Manche Mütter sind der Überzeugung, dass sie das Einverständnis der Kinder/Jugendlichen brauchen, um gemeinsam den gewalttätigen Vater zu verlassen. Es scheint, als diene das Streben nach Verbundenheit der Mutter weniger manipulativen Zwecken zu dienen als jenes des Vaters.
In vielen Fällen geben beide Elternteile keine Erklärung zu den Gewaltgeschehnissen ab, und das Kind wird seiner Fantasie überlassen, welche häufig noch stärker angstbesetzte Szenarien und Auswirkungen beinhaltet.

Rollenumkehr:
Wenn die Beziehung der Eltern von Gewalt geprägt ist, übernehmen die Kinder häufig die Rolle der Erwachsenen (auch wenn die Gewalt gegen ein Geschwister gerichtet ist). So nehmen die Kinder im Kontext der väterlichen Gewalt gegenüber der Mutter die Rolle der „Mutter der Mutter“ ein: Sie sorgen sich um sie, beschützen sie und übernehmen die Verantwortung für (ihrer Vermutung nach) mögliche Gewaltauslöser. Viele Frauen und auch Kinder berichten, dass sie, die Kinder, sich dazwischengestellt haben, auf den Misshandler eingeredet haben, ihn angefleht haben oder ihm alles Mögliche versprochen haben, nur damit er aufhört. Es kommt auch häufig vor, dass die Kinder die Polizei oder Rettung rufen oder Hilfe in der Nachbarschaft oder bei Verwandten suchen. Für die Kinder ist der Schutz der Mutter nicht nur ein Schutz einer innig geliebten Person, sondern damit auch ein Versuch ihr eigenes psychischen Überlebens zu gewährleisten. Für die gewaltbetroffenen Mütter sind die Kinder leider auch häufig eine der wenigen Möglichkeiten, sich vor den grauenvollsten Taten des Misshandlers zu schützen, indem sie dafür sorgen, dass ein Kind immer anwesend ist.
Durch diese Rollenumkehr bringen sich Kinder permanent in Gefahr und die dauerhafte Überforderung führt häufig zur Traumatisierung und anderen Folgeerscheinungen.

Traumatisches Schuldgefühl, Identifikation mit dem Aggressor, Spaltung, Verleugnung und Verkehrung ins Gegenteil:
Die Realität der väterlichen/elterlichen Misshandlung oder Vernachlässigung kann für die Kinder derart unerträglich sein bzw. werden, dass sie zum Schutz ihres inneren Bildes von „guten Eltern“, von denen ihr Fortbestehen abhängt, die Schuld an den gewaltvollen Verhaltensweisen auf sich nehmen bzw. sie introjizieren. Die Bedrohung durch den Verlust des geliebten Subjektes ist so groß, dass eher das eigene Selbst geopfert wird.
Durch die Identifikation mit dem Aggressor ermöglicht sich das Kind die Erhaltung des gewalttätigen Elternteils als gutes Subjekt. Die Schuld des Täters wird dabei auf den Schwächeren projiziert.
Bei der Spaltung kommt es zu einem intrapsychischen Prozess, welcher es dem Kind ermöglicht, den Vater im Bewusstsein weiterhin als „gut“ zu erleben. Diese Abspaltung ist eine Schutzfunktion der Psyche, welche in einem traumatischen Schockzustand nicht in der Lage ist, das Trauma zu verarbeiten. Die bedrohlichen Anteile dieses Vaters werden nur in abgespaltener Form (z. B. in Träumen, Fantasien) zugänglich.
Das Festhalten am idealisierten Vaterbild ist ein Überlebensversuch des Kindes, um die Angst machende Beziehung zu ihm leichter ertragen zu können. Die genannten Schutz- und Abwehrmechanismen verhindern den Zugang zu den eigenen Gefühlen und erschweren dadurch auch die Loslösung vom gewalttätigen Vater.
Die Verleugnung zeigt sich bei den Kindern in einem Fantasieren einer anderen Welt, die schön und friedlich ist, und entspricht dem Wunsch, die erlittene Gewalt ungeschehen zu machen. Dies kann auch durch den Prozess der Verkehrung ins Gegenteil passieren, indem die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Kinder in deren Fantasie in eine Handlungsfähigkeit umgewandelt wird.
All diese Schutzmechanismen, welche im Kind aktiviert werden, machen dennoch die Gewalterfahrung nicht ungeschehen und können zu unterschiedlichen Folgen führen.


Die Folgen von miterlebter Gewalt im häuslichen Kontext bei Kinder und Jugendlichen
Die Aussage: „Die Kinder waren eh noch zu klein, um zu verstehen“ ist eine der weit verbreiteten Trugschlüsse. Wie bereits dargelegt sind Kinder von Geburt an geschult darin, das Erleben ihrer Bindungsperson und anderer Bezugspersonen zu erkennen bzw. wahrzunehmen. Dies benötigen sie, um zu überleben, und sie stellen daher eine Form von Syntonie mit einem ihrer Mitmenschen her. Deshalb ist jede Form der Gewaltanwendung an einer ihnen nahestehenden Bezugsperson eine Form der Gewalt am Kind. Das Alter und die jeweilige Entwicklungsstufe eines Kindes verhindern nicht das Wahrnehmen der Gewalt.
Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen sprachlichen Entwicklung werden Traumatisierungen im Alter von bis zu zweieinhalb Jahren überwiegend als sinnliche, visuelle, atmosphärische und szenische Eindrücke erinnert, die von den Kindern mittels Handlungen und Spiel dargestellt werden. Mit den Jahren kann ein Kind die Fähigkeit erwerben, Wörter zu diesen Bildern und Sinneseindrücken zu finden, die Erinnerungen daran sind manchmal traumähnlich. (1)
Werden Kinder wiederholt, lang anhaltend traumatisiert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie durch das Einsetzen von Abwehrmechanismen vieles vom Geschehen verdrängen. Traumatische Kindheitserinnerungen bleiben im Gedächtnis häufig in sogenannten Deckerinnerungen erhalten, die als bruchstückhafte sinnliche und szenische Eindrücke auf dahinterliegende traumatische Erfahrungen verweisen. (1)
Die psychophysischen Folgen, die miterlebte Gewalt mit sich bringen kann, sind individuell verschieden und variieren aufgrund der altersbedingten Informationsverarbeitungsmöglichkeiten und der bisherigen Lebenserfahrungen. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass sie zu einer großen Verwirrung (z. B. aufgrund der Loyalitätskonflikte) führen, dass es zu Unsicherheiten und Belastungen kommt, welche sich in psychosomatischen Erkrankungen und Auffälligkeiten, Belastungsreaktionen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen, Aggressivität und anderen Verhaltensauffälligkeiten, interpersonellen Problemen, Ängsten, Angststörungen und Zwangsproblematiken, Entwicklungsstörungen, regressiven Verhaltensweisen oder Essstörungen äußern können, um nur einige zu nennen.
Die Auswirkungen von miterlebter Gewalt können sich auch bis ins Erwachsenenalter ziehen und erst dort zum Vorschein kommen oder zu weiteren psychischen Auffälligkeiten bzw. Krankheiten führen (so z. B. Persönlichkeitsstörungen, Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen).
Vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen kommt es zu Auffälligkeiten im sozialen Bereich. Durch die erlangte Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit können sich gewisse Verhaltensmuster erst zeigen. So gibt es eben auch sogenannte Ausreißer, „Streuner“ oder „Straßenkinder“, die nicht aus Freude und Spaß dem Zuhause fernbleiben, sondern rein aus der Angst vor dem gewalttätigen Erwachsenen. Die Gewalterfahrungen lassen ihr Vertrauen in die Mitmenschen schwinden und/oder sie erlernen in ihrer Ursprungsfamilie nicht adäquate soziale Verhaltenskompetenzen, sodass sie im Beziehungsaufbau und/oder in der Beziehungsaufrechterhaltung häufig Defizite aufweisen und dabei mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert sind.

„Mir ging es ganz anders als sonst. Mein Bauch hatte ständig andere Gefühle. Mir kamen die Tränen von selbst heraus, sie kamen einfach von selbst. Mein Bauch hatte einmal Angst manchmal hatte er um meine Mama Angst, manchmal sogar hatte ich um meinen Vater Angst. Da er nicht weiß, was er tut. Die Zick-Zack-Striche [bezogen auf die dazugehörige Zeichnung] sind die Schläge, die meine Mama von meinem Vater gekriegt hat. Die Schläge, die meine Mama bekam, spürte ich in meinem Bauch von einem hin und her Zerren. Das machte mich traurig, und ich bekam Angst.“

Zitat eines Kindes, 12 Jahre; aus: Strasser 2001, S. 178

 

Literatur und weiterführende Links:

(1) Strasser Philomena: Kinder legen Zeugnis ab. Gewalt gegen Frauen als Trauma für Kinder. Innsbruck; Wien; München; Studien Verlag, 2001.

(2) Levine Peter A., Kline M.: Verwundete Kinderseelen heilen. Wie Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse überwinden können. Kösel Verlag München, 2005.

(3) Oerter Montada. Entwicklungspsychologie. Weinheim Beltz Psychologie Verlags Union, 4. Auflage, 1998.

www.ms.niedersachsen.de/master/C784255_N756149_L20_D0.html (Stand: 6. 5. 2009)

db.dji.de/asd/F029_Kindler_lv.pdf (Stand: 6. 5. 2009)

www.frauenhaus-mistelbach.at/m_content.php?menue=6&id=24 (Stand: 6. 5. 2009)

www.segeberg.de/pics/medien/1_1200596109/Haeusliche_Gewalt___Auswirkungen_auf_die_Kinder_07.11.07.pdf (Stand: 6. 5. 2009)