Hinweise für die Gesprächsführung
Frauen schämen sich oft und haben Angst, über die erlebte Gewalt zu berichten. In der Fachliteratur wird darauf hingewiesen, dass Frauen zwar häufig versuchen, über das Erlebte zu sprechen, auf ihrem Weg der Hilfesuche wird die Gewaltsituation jedoch in vielen Fällen verharmlost, man begegnet ihnen mit Vorurteilen oder glaubt ihnen nicht. (Siehe auch: Mythen und Stereotype)
Es ist wichtig, der Patientin zuzuhören und sie nicht zu verurteilen, ihr den Grund, warum nach Gewalt gefragt wird, mitzuteilen und klarzustellen, dass dies für eine professionelle Behandlung besonders wichtig ist. Beispiel: „Es ist bekannt, dass viele Frauen Gewalt erfahren und dass dies Folgen für die Gesundheit haben kann. Deshalb fragen wir alle Patientinnen, ob jemand ihnen etwas angetan hat.“
Konkrete Fragen
Wirkt die Frage nach Gewalt zu allgemein, sollten konkrete Fragen gestellt werden, wie z. B. ob die Frau geschlagen, misshandelt oder verletzt worden ist und ob sie sich zu Hause sicher und geschützt fühlt. Solche Fragen ermöglichen der Frau, offen darüber zu reden und geben dem Personal Aufschluss über die Hintergründe der Verletzungen/Beschwerden. Der Begriff „Verletzung“ erlaubt der Frau, über eventuelle körperliche oder psychische Verletzungen zu sprechen. Zum Beispiel: „Wie sind Sie die Treppe hinuntergefallen?“, „Hat Sie jemand geschubst?“, „Ist es möglich, dass Ihnen jemand diese Verletzungen zugefügt hat?“, „Könnte es Ihr Lebensgefährte/Mann/Partner gewesen sein?“
Wenn eine Patientin die Gewalterfahrung bestätigt
Wenn eine Frau die Gewalterfahrung bestätigt, ist es wichtig, ihr zu glauben, sie zu bestärken, darüber zu reden, und ihr zuzuhören. Es soll unterstrichen werden, dass sie für die erlebte Gewalt nicht verantwortlich ist und dass sie auf Unterstützung zählen kann.
Wenn die Patientin die Gewalt leugnet
Eine Patientin hat ihre Gründe, nicht über die Gewalt zu sprechen, und dies ist zu respektieren. In diesem Fall und wenn die Art der Verletzungen und Beschwerden eine Gewaltsituation vermuten lässt, soll ihr der Verdacht mitgeteilt und sollen ihr diesbezügliche Informationen gegeben werden.
Wenn die Patientin aggressiv reagiert oder sich angegriffen fühlt
Wenn eine Frau sich ärgert, weil sie explizit nach Gewalt gefragt wird, sollte man ihr klarmachen, dass diese direkte Frage Teil der Anamnese und eine Routinefrage ist, da dieses Phänomen weit verbreitet ist.
Was ist zu vermeiden?
Mit der Frau soll nicht in Anwesenheit der Familienmitglieder gesprochen werden, es soll ohne die Zustimmung der Frau nicht die Polizei gerufen werden. Die Misshandlung soll nicht verharmlost und die Gefahr ernst genommen werden, auch wenn die Frau viele Jahre in der Gewaltsituation geblieben ist. Die Selbstständigkeit der Frau soll respektiert und es sollen ihr keine Entscheidungen (z. B. Anzeige, Trennung, Paartherapie) aufgedrängt werden.
Negativ-Beispiele: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich ihn sofort verlassen ...“, „Warum trennen Sie sich nicht?“, „Was haben Sie getan, um die Gewalt Ihres Partners zu entfachen?“ Mit diesen Fragen beschuldigt man die Patientin, und es besteht das Risiko, die Frau erneut in die Opferrolle zu drängen.
Abschluss des Gesprächs
Sicherheitsplan
Die Sicherheit und der Schutz der Frau und ihrer Kinder haben oberste Priorität. Die Fachliteratur weist darauf hin, dass in dem Moment, in dem eine Frau sich entscheidet, sich vom gewalttätigen Partner zu trennen, das Risiko weiterer Gewalt bis hin zur Tötung steigt: Es ist somit unbedingt notwendig, gemeinsam mit der Frau die reelle Gefahr einzuschätzen und sich zu erkundigen, ob sie Kinder hat, um auch diese in den Sicherheitsplan einbeziehen zu können.
Informationen bereitstellen
Welche Entscheidung die Frau auch trifft, es ist wichtig, ihr jegliche Informationen betreffend der örtlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Eine der grundlegenden Funktionen des Gesundheitspersonals besteht darin, Ressourcen/Hilfsangebote zu aktivieren. Das bedeutet, der Frau die Telefonnummern der Kontaktstellen gegen Gewalt/Beratungsstellen/Gewaltschutzzentren und der Frauenhäuser/Geschützten Wohnungen (Info-Card) zu geben. Wenn die Frau es wünscht, sollte sofort ein direkter Kontakt hergestellt werden.
Literatur:
Adami C./Basaglia, A./Bimbi F./Tola V.: “Libertà femminile e violenza sulle donne”, Franco Angeli, Milano 2000.
Progetto Urban “Dentro la violenza, cultura e pregiudizi, stereotipi. Rapporto nazionale “Rete antiviolenza Urban”, Franco Angeli, 2002.
Creazzo G.: “Mi prendo e mi porto via”, Franco Angeli, 2003.
Hellbernd, H.: „Häusliche Gewalt gegen Frauen: gesundheitliche Versorgung“, das S.I.G.N.A.L.-Interventionsprogramm.
Kavemann B./Kreyssig U.: „Handbuch Kinder und häusliche Gewalt“, Vs Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006.
Linee Guida Per Operatori/trici Sanitari/e “La violenza verso le donne e le professioni di aiuto – Strumenti” elaborate da Regione Siciliana, Le Onde – Centro Accoglienza e Casa delle Moire U.D.I. Onlus, Unione Europea FSE, Ministero del Lavoro e delle Politiche Sociali, Edizioni Anteprima, 2004.
Maltrattate in famiglia – Suggerimenti nell’approccio alle donne che si rivolgono ai servizi socio-sanitari, elaborate dall’Associazione Gruppo di lavoro e ricerca sulla violenza alle donne di Bolzano, 1999
Romito P. “Un silenzio assordante”, Franco Angeli, Milano 2005.