Sie sind hier: Startseite Gesprächsführung Patientinnen mit Migrationshintergrund Migration Fallbeispiel Intervention

Fallbeispiel Intervention

 

Oksana ist fünfzig Jahre alt und kommt aus der Ukraine. Sie wohnt seit zwei Jahren in Meran und ist mit einem ebenfalls aus der Ukraine stammenden Mann verheiratet. Sie haben sich in der Ukraine kennen gelernt. Nach ihrer Heirat ist Oksana zu ihrem Mann nach Meran gezogen. Sie haben beide erwachsene Kinder aus erster Ehe und leben in Meran allein in einer kleinen Mietwohnung. Zu Beginn war ihre Beziehung gut, doch nach dem Umzug nach Meran und durch das Zusammenleben verhielt sich ihr Mann ihr gegenüber immer bestimmender, kontrollierender und aggressiver.
Die erste Zeit in Meran war für Oksana besonders schwierig, da sie die Sprache nicht kannte und keinen Kontakt zu anderen Menschen pflegen konnte. Sie war vor allem zu Hause, auch da ihr Mann nicht wollte, dass sie allein in die Stadt geht. Oksana wollte einen Sprachkurs besuchen, aber ihr Mann war damit nicht einverstanden. Oksana brauche doch keinen Sprachkurs und er würde ja für sie sorgen. Trotzdem war es für Oksana wichtig, die Sprache zu erlernen, um nicht so isoliert leben zu müssen und auch arbeiten zu können. Sie versuchte daher, sich die Sprache über das Fernsehen anzueignen. Nach einiger Zeit fand sie auch eine Arbeit als Raumpflegerin und konnte daher nach und nach ihre Sprachkenntnisse verbessern. Trotzdem war sie sehr unsicher, da ihr Mann immer wieder in der Öffentlichkeit und auch zu Hause ihre Sprachkenntnisse belächelte und jeden Fehler lautstark betonte. Oksana sei einfach zu dumm für die Sprache und jede Anstrengung umsonst. Oksana schämte sich daher sehr für ihre sprachlichen Schwierigkeiten und war verunsichert, weshalb sie so wenig wie möglich zu sprechen versuchte und oft ihren Mann für sich sprechen ließ.
Neben den ständigen Beleidigungen auch vor anderen kam es immer häufiger zu Konflikten. Ihr Mann war nicht damit einverstanden, dass sie arbeiten ging und unterstellte ihr ständig, sich außerhalb der Wohnung mit anderen Männern zu treffen. Versuchte sich Oksana zu verteidigen oder als sie sich weigerte ihre Arbeit zu kündigen, wurde ihr Mann auch körperlich gewalttätig. Einmal hat er ihr so stark ins Gesicht geschlagen, dass sie eine Platzwunde über der rechten Augenbraue hatte. Ihr Mann begleitete sie sofort in die Erste Hilfe des Krankenhauses. Auf den Weg ins Krankenhaus entschuldigte er sich immer wieder bei ihr. Er habe sie doch nicht schlagen wollen, aber sie wisse doch genau, dass er sie so liebe und gerne für sie sorgen möchte, doch sie müsse ja unbedingt arbeiten gehen. Im Krankenhaus angekommen war ihr Mann ständig an ihrer Seite, er kümmerte sich um alles, auch unter dem Vorwand der geringen Sprachkenntnisse von Oksana. Als sie an der Reihe war, wollte ihr Mann sie begleiten, doch die Ärztin forderte ihn auf, am Gang zu warten. Der Mann versuchte zwar zu erklären, dass Oksana kein Italienisch oder Deutsch spricht und auch psychisch sehr verwirrt sei, aber die Ärztin wiederholte nochmals klar, dass alle Patienten und Patientinnen allein versorgt werden und sie es hinsichtlich der Sprache versuchen möchte.
Oksana war zwar sehr aufgeregt, aber auch erleichtert, dass ihr Mann auf sie warten musste.
Die Ärztin war sehr freundlich, und Oksana konnte fast alles verstehen, was sie ihr sagte, und sie versuchte, auf ihre Fragen zu antworten. Die Ärztin fragte sie auch, wie sie sich verletzt hat. Oksana wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte, und begann zu weinen. Die Ärztin reichte ihr ein Taschentuch fragte nach, ob vielleicht ihr Mann sie geschlagen habe. Oksana bestätigte dies. Die Ärztin informierte sie darüber, dass es einen Ort gebe, wo ihr geholfen werden kann. Sie könne dort mit einer Beraterin sprechen und bei Bedarf gebe es auch die Möglichkeit einer Unterkunft. Zugleich gab sie ihr eine Karte mit den Telefonnummern. Oksana wusste nicht recht, was sie tun soll. Sie wollte ihren Mann nicht verlassen. Die Ärztin bot ihr daraufhin an, einfach nur unverbindlich einen Termin zu vereinbaren, um in aller Ruhe mit einer professionellen Beraterin über ihre Familiensituation sprechen zu können. Sie bot ihr auch an, gleich für sie anzurufen. Oksana stimmte zu und die Ärztin vereinbarte einen Termin mit einer Mitarbeiterin der Beratungsstelle gegen Gewalt an Frauen. Diese wollte zum Beratungsgespräch auch eine Kulturvermittlerin einladen. Oksana war froh darüber, auch wenn ihr mittlerweile bewusst geworden war, dass ihre Sprachkenntnisse eigentlich ganz gut waren. Nach der ärztlichen Versorgung und dem Telefonat wies die Ärztin auf ihre Schweigepflicht hin und versicherte Oksana, dass der Mann keine Informationen über ihr Gespräch erhalten werde. Oksana war darüber sehr erleichtert. Der Gesprächstermin in der Beratungsstelle wurde so vereinbart, dass er in Oksanas Arbeitszeit fällt und der Mann daher keinen Verdacht schöpfen konnte. Oksana war der Ärztin sehr dankbar und etwas erleichtert. Ihr Mann war immer noch sehr besorgt und fürsorglich, trotzdem war Oksana fest entschlossen, den Termin in der Beratungsstelle einzuhalten.